Selbstverantwortlich Lernen

Wir können beobachten, welchen speziellen, individuellen Zugang zur Welt sich jedes einzelne Kind sucht und schafft. Ich kann daran schon am ganz kleinen Kind die Ausprägung der Individualität erkennen. So können wir einen –unterschiedlich ausgeprägten – unendlich großen Lernwillen gerade beim kleinen Kind erkennen. Zug um Zug, Schritt um Schritt erkundet und erobert es sich die Welt! Es übt unermüdlich und lässt sich von noch so häufigem Hinfallen nicht entmutigen, bis es endlich steht - und dann die ersten eigenen Schritte machen kann. Genauso übend und nachahmend erfasst es alles Andere - die Sprache, die Begriffe und das Denken. Ein ungeheurer Lernprozess, der durch die moderne Hirnforschung erkundet und bestätigt wird. Meine Vermutung ist: müssten wir das alles in der Schule (so wie sie zur Zeit ist!) lernen, würden wir es nie zu ausreichenden Fähigkeiten und Fertigkeiten darin bringen!

Also – das Kind bringt sich die Dinge selbst mit individuell entwickelten Lernstrategien bei! Dies ist eine sehr kostbare Fähigkeit, die es zu erhalten gilt. Leider haben viele Eltern zu wenig Verständnis für dieses besonders kostbare Gut ihrer Kinder. Die verschiedenen Computerprogramme, die auch schon im Kindergarten eingesetzt werden, Lernspiele etc. bedrohen allein schon durch die darin enthaltene Simplifizierung, Schematisierung und Vereinheitlichung die individuellen Lernkonzepte jedes Kindes. Deshalb ist für mich der Waldorf-Kindergarten mit seinen freilassenden, fantasieanregenden Angeboten und seinen kindgemäßen Ansätzen für das soziale Lernen in der Gruppe ein wesentlicher Beitrag zum Schutze der Kindheit und des kindlichen Lernens.

Kommt das Kind nun in die Schule, ist es meist mit dem individuellen Lernweg weitgehend vorbei. Es wird eingespannt in Lernprozesse, die für die ganze Klasse gelten. Inzwischen gibt es zwar in allen Schulen vielfältige Ansätze, das Lernen auch in diesem Kontext zu individualisieren – sie sind aber von Erwachsenen ausgedacht und sehen das Lernen aus Erwachsenen-Perspektive. Deshalb sind sie aus meiner Sicht meistens zu stark intellektuell geprägt und zielen auf methodische Ansätze des Lernens. Hier sehe ich in der Waldorfschule viel bessere Möglichkeiten, da sie in ihrem eigenen Lehrplan versucht, die Kinder kindgemäß, menschengemäß, entwicklungsgemäß an das Erlernen der Kulturtechniken und an das Entdecken der Welt heranzuführen.

Die Kinder der ersten Klassen sind – bis auf wenige Ausnahmen, die näher zu untersuchen wären – durchweg noch lernfreudig und lernwillig. Im Laufe der Schuljahre verliert sich das leider auch in der Waldorfschule mehr oder weniger schnell, meist ganz deutlich ab der dritten Klasse. Was geht da vor? Was liegt in der Entwicklung der Kinder begründet, was in dem System Schule, hier Waldorfschule?

Worauf es ankommt, ist, die Möglichkeiten zu schaffen, den individuellen Lernwillen der Kinder zu erkennen, aufzugreifen und sich entwickeln zu lassen. Wie kann das in einer großen Klasse von bis zu 37 oder 38 Kindern gelingen? Was in unserer bisherigen Art, Waldorfschule zu betreiben, behindert das und was fördert es? Welche Bedingungen und Voraussetzungen müssen wir dafür schaffen? Welche Möglichkeiten eröffnen sich dann für uns? Diesen Fragen sind wir in unserem Praxisforschungsprojekt nunmehr seit acht Jahren gezielt nachgegangen.

Der Software AG Stiftung spreche ich an dieser Stelle meinen großen Dank für die großzügige finanzielle Unterstützung aus, durch die sie diese Praxisforschungen überhaupt möglich gemacht hat, sowie dem verstorbenen Herrn Heiner Will, als erstem Projektleiter der Software AG Stiftung für unser Projekt und vor allem Herrn Prof. Randoll für seine hilfreiche, unterstützende Begleitung.